ZDF
Verheugen: "Nicht tatenlos zusehen"
Iranische Flüchtlinge im Camp Liberty
(Quelle: ap)
Mehr als 3.000 iranische Flüchtlinge sind im Irak gestrandet, sie leben unter unzumutbaren Bedingungen - dreihundert von ihnen wollen nach Deutschland ausreisen. "Ich erwarte, dass Deutschland sie aufnimmt", fordert der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen im heute.de-Interview und will die Bundesregierung heute erneut damit konfrontieren.
heute.de: Bereits im Jahr 2011 haben Sie das Flüchtlingselend im Irak angeprangert. Was hat sich seitdem an der Lage geändert?
Günter Verheugen: Die Lage hat sich seit 2011 noch einmal dramatisch verschlechtert. Die betroffenen Exiliraner haben unter massivem Druck und angesichts weiterer militärischer Angriffe ihren langjährigen Zufluchtsort, Camp Ashraf, verlassen und befinden sich jetzt in einem Übergangslager nahe Bagdad, Camp Liberty. Die Lebensbedingungen dort sind unzumutbar. Auch dort ist die Sicherheit der Flüchtlinge nicht garantiert, wie der jüngste Raketenangriff mit 8 Toten und über 100 Verletzten zeigt. UNHCR hat die Prüfung aller Einzelfälle noch nicht abgeschlossen, allerdings keinen Zweifel daran gelassen, dass die ehemaligen Bewohner von Camp Ashraf Flüchtlingsstatus nach der Genfer Konvention genießen. Aufnahmewillige Drittstaaten haben sich bisher nur für eine verschwindend geringe Zahl von Asylbewerbern gefunden, so dass von einem übergangsweisen Aufenthalt im Camp Liberty keine Rede sein kann.
Günter Verheugen - ehemaliger EU-Kommissar
Quelle: imago
heute.de: Wie sehen nun die aktuellen Forderungen an die Bundesregierungen aus?
Verheugen: Von der Bundesregierung erwarte ich, dass sie jegliche Gewalt gegen die ehemaligen Bewohner von Camp Ashraf entschieden verurteilt. Ich erwarte, dass sie wenigstens alle diejenigen aufnimmt, das sind etwa 300, die klaren Bezug zu Deutschland haben. Und ich erwarte, dass sie mit der MEK, also den Volksmujahedin, in einen Dialog über die Lage der Flüchtlinge und über die Menschenrechtsprobleme im Iran eintritt.
heute.de: Wäre denn der Irak bereit, die Flüchtlinge von heute auf morgen ausreisen zu lassen?
Verheugen: Nicht die Ausreise aus dem Irak wäre das Problem, sondern die Einreise in ein sicheres Drittland. Wäre es nach dem Willen des Irak gegangen, so hätte man Camp Ashraf aufgelöst, die Bewohner über den gesamten Irak verteilt und damit völlig schutzlos gemacht. Zugleich hätte man damit erreicht, dass die internationale Öffentlichkeit das Schicksal der Betroffenen nicht mehr verfolgen könnte. Hier steht der Irak unter dem Einfluss des Iran, der in der MEK mit Recht die demokratische Alternative zum derzeitigen Regime sieht und daher fürchtet.
heute.de: Wie sieht eigentlich die aktuelle Haltung der USA zu dem Thema aus?
Verheugen: Die USA haben im vergangenen Herbst wie vor Jahren schon die EU die MEK von der so genannten Terrorliste gestrichen. Das geschah aufgrund einer Entscheidung von Hillary Clinton, die zu diesem Schritt vom Kongress gedrängt wurde. Allerdings wollen die USA heute nichts mehr davon wissen, dass sie allen Bewohnern von Ashraf einst eine Sicherheitsgarantie gegeben hatten. Soweit ich das beurteilen kann, unterstützen die USA die Bemühungen des UNHCR.
heute.de: Wie sollte es nun weitergehen?
Verheugen: Insgesamt ist mein Eindruck, dass die iranischen Flüchtlinge nach dem jüngsten Angriff auf Camp Liberty verzweifelt und ratlos sind. Sie fühlen sich im Stich gelassen. Deshalb sind jetzt zwei Dinge vordringlich: volle Sicherheit für die Bewohner des Camp Liberty, garantiert durch die UNO, sowie die schnelle Ausreise aller in sichere Drittstaaten. Unabhängig davon, wie man politisch zur MEK steht, darf man aus humanitären Gründen nicht tatenlos zusehen, wenn Menschenleben in Gefahr sind.
Das Interview führt Christian Thomann-Busse
03.04.2013
Gestrandete Oppositionelle
1986 bis 2012: Das ehemalige Lager Ashraf
25 Jahre haben gut 3000 bis 3500 Exil-Iraner im "Camp Ashraf", einer Siedlung rund 60 Kilometer nördlich der irakischen Hauptstadt Bagdad und 120 Kilometer entfernt von der iranischen Grenze, gelebt. Ashraf war Zufluchtsort der iranischen Volksmujahedin (Modschahedin-e Chalgh, MEK) und zugleich Ausbildungszentrum für die Kämpfer der MEK. Im Jahr 2003 wurden die MEK-Kämpfer von der US-Armee entwaffnet.
Seitdem werden die Bewohner von Camp Ashraf nach den Bestimmungen der Genfer Konvention behandelt, seit 2009 stand Ashraf unter Kontrolle des irakischen Militärs. Nach Angaben des Menschenrechtsvereins für Migranten forderten Angriffe des irakischen Militärs fast 50 Tote und Hunderte Verletzte unter den Bewohnern.
2012 bis heute: Camp Liberty
Im Laufe des Jahres 2012 wurden die Bewohner vom irakischen Regime von Camp Ashraf in das ehemalige US-Militärlager Camp Liberty umgesiedelt – gut 3.000 Menschen, darunter rund 1.000 Frauen. Dort, so berichtet der Menschenrechtsverein für Migranten, werden die Exil-Iraner "unter Verletzung der Menschenrechte und des Völkerrechts wie Gefangene festgehalten".
Die Flüchtlinge seien militärischer Willkür und Repressalien ausgesetzt: "Die Zustände in Camp Liberty sind menschenunwürdig und verletzen die internationalen humanitären Bestimmungen, die für Flüchtlingslager gelten." Die irakische Regierung wolle die Zwangsvertreibung der Iraner durchsetzen. Aber, so der Menschenrechtsverein: "Im Iran drohen ihnen Folter und Massenhinrichtungen."
Die internationale Menschenrechtskampagne
Prominente aus zahlreichen Ländern setzen sich in einer internationalen Menschenrechtskampagne dafür ein, dass die Bewohner von Camp Liberty internationalen Schutz erhalten und durch Drittländer aufgenommen werden. Zu den Unterstützern zählen unter anderem die Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu und Elie Wiesel, Ex-Innenminister Gerhart Baum und Rita Süssmuth.
Eine der zahlreichen Informationsveranstaltungen der Kampagne gibt es heute in Berlin. Dort informiert das "Deutsche Solidaritätskomitee für einen freien Iran" (DSFI) über die aktuelle Lage der oppositionellen Exil-Iraner. Mit dabei prominente Unterstützer: Günther Verheugen, ehemaliger Vizepräsident der Europäischen Kommission, der ehemalige Kanzlerberater Horst Teltschik sowie der ehemalige UN-Beauftragte Tahar Boumedra.